Vollmondwüste


November 2006

Als wir um 18:00 in den Bus steigen, haben wir den kurzen Sonnenuntergang bereits lange verpasst und ein voller Mond steht hell am Himmel. Ein paar Wolken verdecken ihn hin und wieder, in Erinnerung daran, dass der Sommer vorbei und der Winter ganz nah ist. Mit vollen Bäuchen lassen wir uns in die Sitze sinken, um drei Stunden lang gen Negev-Wüste zu schaukeln. Firmenausflug nennt sich das. Aber weil wir alternativ sind, machen wir die Nacht zum Tag und schlafen danach in den Abend hinein.
Kurz nach 21 Uhr haben wir unser Ziel erreicht: Kfar HaNokdim, ein abgelegenes Beduinendorf unweit der Festung Mazada. Gleich am Eingang erwarten uns duftend-heisse Fladenbrote mit Zaartar und süß-dampfender Kaffee. Wir visieren in Windeseile das grosse Zelt, das uns heute Nacht als Lagerstätte dienen soll (falls wir doch eine Mütze Schlaf brauchen sollten)--Matratzen, Schlafsäcke, Tische beladen mit Früchten, Nüssen und Getränken, eine wahre Oase eben--, werfen unsere Rucksäcke ab und machen uns auf ins benachbarte Zelt, um einem faszinierenden Vortrag über die verschwindende Kultur der Beduinen, ihre Gastfreundschaft und die Bedeutung des Kaffeerituals zu lauschen. Doch noch ehe wir uns richtig auf den traditionell gekleideten Mann einstellen können, verschwindet auch er—und wir bleiben allein zurück, um zwei Stunden lang eifrig kniffelige Gruppenaufgaben zu lösen, in der Hoffnung, als Sieger des Abends in die Firmengeschichte einzugehen.
Um Mitternacht huschen wir dann im hellen Schein des Vollmonds in ein drittes Zelt, zum festlichen Beduinenmahl. Abermals schlagen wir uns die Bäuche voll, diesmal mit Lammrippen, zartem Hühnerfleisch, Kebab, würzigem Ratatouille, Bedouinenreis, gegrillten Zwiebeln und Tomaten, Auberginensalat, Maiskolben, Pita, Früchten, Baklava, hauseigenem Rosewein, gesüßtem Kaffee und Tee.
Träge wie wir sind, nicht nur ob der späten Stunde, schleppen wir uns dann zum einzigen Programmpunkt, dessen wir noch fähig sind: einem behaglichen Lagerfeuer unterm Sternenhimmel, das ausreichend Schutz gegen die empfindliche Kälte der nächtlichen Wüste bietet. Bei sanften Gitarrenklägen vertreiben wir singend unsere aufgekommene Müdigkeit—bis ein autoritäres Hüsteln den Höhepunkt des Abends ankündigt: die Siegerehrung. Kurz und schmerzlos geht sie über die Bühne; ich habe mit meiner Gruppe das Treppchen nur knapp verfehlt und gehe leer aus, während die Helden der Gruppenaktivitäten kuschelige Fleece-Decken mit nach Hause nehmen. Ich trage es mit Fassung und schnappe mir eine Flasche Bier als Schlaftrunk. Dann suche ich in der Schwärze der Nacht stolpernd meine Matratze und schlüpfe für knapp zwei Stunden Schlaf in den Schlafsack.
Pünktlich um 5 Uhr werde ich sanft aus dem Schlaf geschüttelt. Für Hartgesottene und Romantisch-Verklärte ist die Nacht vorbei, noch ehe der Tag begonnen hat: Nach einer schnellen Tasse Kaffee fahren wir nach Mazada, erklimmen über die Rampe, die Flavius Silva vor fast 2000 Jahren anschütten lassen hat, in einem 20-minütigen Marsch die Festung, auf der sich im Jahre 72 fast 1000 Juden der Sage nach das Leben genommen haben sollen, und warten auf einen spektakulären Sonnenaufgang.
Doch der kommt nicht. Zugegeben, die Sonne geht auf. Doch je höher sie steigt, desto weiter schiebt sich auch die Wolkenmasse voran, die von Jordanien heranzieht, der Sonne immer ein winziges Stückchen voraus. Eine Stunde verbringen wir 400 Meter über dem Toten Meer, schnuppern Geschichte, bewundern eine alte Kultur, kämpfen gegen den Schlaf und schielen hoffnungsvoll zum Himmel. Vielleicht bricht die Sonne doch noch durch, vielleicht müssen wir nur warten. Keiner gibt die Enttäuschung zu, aber alle empfinden sie. Stolz sind wir trotzdem und überzeugt davon, das üppige Frühstück verdient zu haben, das bei unserer Rückkehr auf uns wartet.
Nochmals langen wir kräftig zu; dann steigen wir zurück in den Bus, der uns erst vor zwölf Stunden hier abgesetzt hat. Vom Fenster aus sehe ich frisch gesattelte (und ungesattelte) Kamele, die geduldig auf den neuen Tag warten. Erst jetzt, da die Dunkelheit der langen Nacht gewichen ist, nehme ich überhaupt die Schönheit der Umgebung wahr. Die Weite der Wüste, die Nähe der Jordanischen Berge, die schwarzen Beduinenzelte unter jetzt strahlend blauem Himmel, die Gruppen von Palmen, die hier und dort wie hingestreut wachsen. Und über allem liegt eine solche Ruhe und Gelassenheit, dass ich ergeben die Augen schliesse. Als ich sie wieder öffne, sind wir bereits zu unserem Glasbüropalast zurückgekehrt, in dessen glänzender Fassade sich lediglich die vorbeiführende Strasse spiegelt und vielleicht noch die Felder und Büsche auf der gegenüberliegenden Seite.

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