"Alte Sachen!"


August 2004

Ich höre den Lumpensammler, noch bevor ich ihn sehe. "Alte Sachen! Alte Sachen!" ruft er auf Jiddisch, während er gemächlich mit seinem Eselskarren um die Ecke biegt. Langsam holpert er die Straße hinunter, vorbei an PKWs, die ihr Wochenende am Straßenrand verbringen, weil die Bewohner dieser Siedlung sich vor der Mittagshitze mal wieder in ihre Häuser geflüchtet haben. Für den Lumpensammler schlechte Aussichten, wirklichen Profit zu machen. Ich beobachte ihn, bis er unverrichteter Dinge hinter der nächsten Kurve verschwunden ist und nur noch sein "Alte Sachen! Alte Sachen!" durch die Straßen hallt, ein Slogen, der mich jedes Mal wieder Lächeln macht, nicht zuletzt, weil diese Lumpensammler oft alte Männer arabischer Abstammung sind, die wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung haben, daß sie in reinstem "Deutsch" ihren Service anbieten.
Doch braucht unser Wohngebiet derzeit etwas anderes viel dringender als Einsammler alter Sachen: Putzhilfen. Wir sind alle verwaist. Seit vor zwei Wochen die 15 illegalen Russinnen ausgewiesen worden sind, die unsere Gegend putztechnisch fest im Griff hatten, liegt die Nachbarschaft brach. Kaum einer dieser Hightech-Haushalte bringt viel zusätzliche Energie auf, um selbst für Ordnung und Reinheit zu sorgen. Jetzt ist die Ratlosigkeit groß und der Bedarf entsprechend.
Dabei bin ich sicher, daß Anna, unsere Hilfe, trotz aller Unannehmlichkeiten nicht all zu traurig war, den Heimweg in die Ukraine antreten zu müssen. Erst vor einem Monat hat ihr 19jähriger Sohn geheiratet, den sie seit über drei Jahren nicht gesehen hat. Kopflos ist sie an diesem Tag nicht von der Seite ihres Telefons gewichen, um wenigstens etwas Anteil am Geschehen nehmen zu können – nicht ahnend natürlich, daß sie ihn nur kurze Zeit später sehen würde. Wer weiß, vielleicht hätte sie dann freiwillig schon eher den Heimweg angetreten. Doch Geldverdienen geht vor, und selbst ein illegaler Aufenthalt im Verborgenen (doch offensichtlich nicht verborgen genug) ist willkommener als die tristen Aussichten, die die Ukraine ihr und ihrer Familie bietet. Ihr Bruder, so hat sie mir erzählt, hat bis vor kurzem einige Jahre in Deutschland gelebt und gearbeitet. Zerrissene Familien um des Brotes willen?
Erst vor einem Jahr haben wir uns von Saldi, einem Philippino, verabschieden müssen. Vier Jahre lange hat er bei uns geputzt, war schon ein Freund der Familie, stets gut gelaunt, mit lachenden Augen, trotz seiner misslichen Lage. Als die israelische Regierung begann, verstärkt illegale Arbeiter aufzuspühren, verschärfte sich seine Situation drastisch, obwohl seine Frau ein Visum hatte. Beim Abschied gab es Tränen auf allen Seiten, und was uns von ihm geblieben ist, sind zwei Fahrräder, die wir ihm und seiner Frau noch in letzter Minute abgekauft haben - bevor sie freiwillig die gepackten Koffer, auf denen sie schon seit Monaten saßen, genommen haben und gegangen sind, schweren Herzens und mit der törichten Hoffnung, mit Arbeitsvisum irgendwann wieder einzureisen.
Wie sehr sich Saldis alte Mutter gefreut haben muß, ihren Sohn nach zehn Jahren wiederzusehen. Zehn Jahre, in denen er regelmäßig Geld geschickt hat, erst aus Australien, dann aus Israel, um nach und nach den Bau eines Hauses zu finanzieren. Zehn Jahre, in denen er nur eines nicht wollte: zum beschwerlichen Reisanbau auf die Philippinen zurückzukehren. Doch am Ende dieser Zeit wagte er sich nicht mehr auf die Straße, ging nicht mehr ans Telefon und schaltete abends kein Licht mehr an – aus Angst, entdeckt zu werden. Das war Saldi, "unser" Philippino, der uns zum Schweinskopfessen einlud und im neuen Supermarkt nach Krokodilfleisch fragte. Der sich in den Zeiten, als SARS grasierte, einen Mundschutz kaufte und unendlich dankbar war, als wir ihm vor der amerikanischen Invasion in den Irak eine Gasmaske besorgten. Der stolz auf seine neue Sonnenbrille war, die er wie ein Tourist mit Baseball-Kappe trug. Und der uns erst beim Adressenaustausch vor seiner Abreise eröffnete, daß er eigentlich José heißt.Inzwischen ist ein Jahr vergangen, und auch Anna hat uns verlassen. Derzeit gibt es nur die kleine Gemeide legaler chinesischer Gastarbeiter im Ort, die im Hochbau und in der Landwirtschaft arbeiten. Jeden Samstagnachmittag, ihrem einzigen freien Tag, spielen sie auf dem dörflichen Volleyballfeld Fußvolleyball, mit verblüffendem Geschick und zäher Ausdauer. Mögen wenigsten sie uns erhalten bleiben.

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