Hebräischstunde

Februar 2004
Als ich die Klasse betrete, bin ich mal wieder eine viertel Stunde zu spät. Aber Gila, unsere Lehrerin, lässt sich davon nicht aus dem Konzept bringen. Studenten wie mich hat sie schon gesehen. Sie unterrichtet seit mehr als 25 Jahren Hebräisch für Neueinwanderer, mit ungebrochener Motivation und so energiegeladen, dass wir ihr auch nach einem langen Arbeitstag unsere uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenken—zweimal pro Woche für zweieinhalb Stunden.
Ich bin erst seit vier Monaten dabei. Seit ich mich entschlossen habe, der hebräischen Sprache ernsthaft den Kampf anzusagen—trotz 50-Stunden-Woche, Bibliotheksabonnement und Fitnessstudio-Verpflichtung. Seit ich es wirklich leid bin, ständig darauf zu vertrauen, dass mein Englisch mir schon weiterhelfen wird, wenn das Hebräisch versagt. Diesmal ist es mir ernst.
Und ich bin in guten Händen. Der Ulpan ("Studio"), die Sprachschule für israelische Neueinwanderer, lehrt nach einem Konzept, das sich schon seit Generationen bewährt. Hier versammeln sich Juden aus aller Welt, die oftmals zu Beginn ihrer Immigration nicht viel mehr verbindet als eben ihre jüdische Herkunft. Neben einem sprachlichen Fundament versucht der Ulpan daher, auch eine soziokulturelle Basis zu schaffen.
Die Menschen, die hier herkommen, bereichern die israelische Gesellschaft mit ihrer Kultur, ihren Bräuchen und ihren Lebensgeschichten. Gleichzeitig werden sie von dieser Gesellschaft durchdrungen, so dass Israel beides ist: Schmelztiegel und Salatschüssel in einem. Meines Erachtens lebe ich in einem der vielfältigsten Länder dieser Welt. Hier treffen Menschen aus Persien, dem Jemen und Äthiopien zusammen, aus Russland und der Ukraine, aus Bulgarien und Rumänien, aus Spanien, Frankreich, Deutschland und England, aus Brasilien, Kolumbien und Uruguay, aus den Vereinigten Staaten und Kanada. Allein unsere Klasse gibt dafür ein gutes Beispiel.
Die Probleme, die dies neben allem Positiven und völlig losgelöst von der politischen Situation mit sich bringt, stehen dabei auf einem anderen Blatt. Israel jedenfalls heißt alle Juden willkommen. Und sie kommen auch, wenngleich die Zahl der Einwanderer 2003 so niedrig war wie seit 15 Jahren nicht mehr.
Viele dieser Neueinwanderer sind ideologisch motiviert, wie Reuven, der meist neben mir sitzt. Reuven ist ein pensionierter Pilot aus Rio de Janeiro, der seine silbergrauen Haare immer ordentlich zurückgekämmt in einem kurzen Pferdeschwanz trägt. Sein ganzes Leben hat er in Brasilien verbracht, aber vor vier Jahren entschied er sich, nach Israel zu gehen. Als ich ihn frage, wie er sich hier fühlt, strahlt er über das ganze Gesicht und sagt: "Es gibt kein anderes Land für mich." Trotz der sprachlichen Schwierigkeiten. Natürlich vermisse er Brasilien, fügt er hinzu. "Aber Israel ist unser Land." Er ist mit seiner Frau und der Familie seiner Tochter hier. Einmal pro Jahr besucht er seine zwei anderen Töchter—die eine in Brasilien, die andere in Australien. So hält er sich fit. Und nebenbei leistet er freiwillige Arbeit in einem Schnellimbiss für israelische Soldaten.
Einige der Neueinwanderer sind religiös eingestellt, wie Lilly, die seit etwa fünf Jahren hier lebt, aber jeden der heißen Sommer in ihrer Residenz an der amerikanischen Ostküste verbringt. Sie habe sich in das Land verliebt, sagt sie, als sie zum ersten Mal ihre Tochter hier besucht habe. Hier sei einfach alles aufregend. Lillys Geschichte ist abenteuerlich, aber keineswegs ungewöhnlich. Geboren in Marokko, ging sie mit 17 Jahren in die USA. Fast fünfzig Jahre ihres Lebens hat sie dort verbracht, nur um dann, im Rentenalter, nach Israel zu ziehen, wo auch zwei ihrer Kinder leben. Einzig ihr Sohn ist noch in den USA. Über ihr Alter redet Lilly nicht, auch wenn ich mir das aufgrund ihrer Geschichte ausrechnen kann. Aber die Zahl ihrer Enkelkinder verkündet sie sogar ungefragt: 18 sind es insgesamt.
Nicht wenige der Neueinwanderer kommen aus wirtschaftlichen Gründen nach Israel, wie Pablo, Damian, Alberto und Alex. Pablo ist vor fünf Monaten mit einer Gruppe von Freunden aus Argentinien angereist. Beinahe euphorisch erklärt er, er fühle sich hier wie neu geboren. Und das, obwohl er noch nicht arbeitet und all seine Energie daran setzt, Hebräisch zu lernen. Auch Damian, dessen Familie erst vor einem Monat nachreiste, blickt optimistisch in die Zukunft. In Argentinien, sagen beide, sei es schwierig gewesen, eine Familie zu ernähren. In Israel sehen sie bessere Chancen.
Alberto, 25, aus Kuba, ist ebenfalls erst seit einigen Monaten im Land. Aber dafür spricht er schon fast so gut Hebräisch wie ich nach drei Jahren. Ob das Talent oder Hingabe ist, kann ich nicht sagen. Alberto ist gelernter Elektroingenieur und hat in Kuba als PC-Techniker gearbeitet—für ganze 10 Dollar im Monat. Er liebt vor allem die Vielfalt der israelischen Küche. Die guten Dinge in Kuba, erklärt er, seien immer den Touristen vorbehalten geblieben. Und obwohl er zur Zeit noch nicht in seinem Beruf arbeitet, gibt er sich zuversichtlich. Eine israelische Freundin hat er immerhin schon.
Alex ist vor zwei Jahren aus Russland emigriert. Er erzählt mir, dass sein Urgroßvater bereits 1918 verkündet habe, es sei unmöglich, in Russland zu leben. Damals stand der gute Mann mit seiner Meinung allein, und so verließ er seine Familie, um in Paris zu wohnen und später in Genf zu sterben. Alex ist der letzte seiner Familie, der Russland den Rücken gekehrt hat und seinen Geschwistern nach Israel gefolgt ist. "In der Schule und an der Uni habe ich gelernt, dass man ein Land ohne Geld bauen kann", sagt er. Aber daran glaubt er schon lange nicht mehr. Heute gibt er seinem Urgroßvater Recht—und ist froh, jetzt in Israel zu sein.
Ich komme nicht umhin, unverhohlene Bewunderung und Zuneigung für diese Neueinwanderer, diese "olim chadashim" zu empfinden, von denen einige in der Mitte oder gar im letzten Drittel ihres Lebens stehen, ohne einen völligen Neuanfang zu scheuen. Die darum kämpfen, die Sprachlosigkeit zu überwinden, zu der sie verdammt sind. Die ohne bemerkenswerte äußerliche Hilfe, sondern langsam, mit einfachen Mitteln und aus eigener Kraft ihren Status zurückerobern—immer mit einem Lächeln, einem Lachen gar. Und immer bereit sind, selber Hilfe anzubieten, wenn sie gebraucht wird. Ich bin eine von ihnen und gehöre doch nicht ganz dazu—als Freundin und jetzt Frau eines Israelis sind (oder waren?) meine Anfangsschwierigkeiten minimal.Was die Sprache anbelangt, ist Lucy, die vor vier Jahren mit ihrem Mann und der Familie ihres Sohnes aus der Türkei nach Israel kam, vielleicht die ehrgeizigste von uns allen. Dabei ist sie schon 75 und doch kein bisschen alt. Sie lernt Hebräisch an fünf Tagen in der Woche, in verschiedenen Klassen. Sie kennt alle Lehrerinnen und die meisten der Schüler. Trotzdem fühlt sie sich ein wenig einsam in Israel. Sie vermisst ihr soziales Netz und vor allem ihren zweiten Sohn, dessen Kinder—und ihren einzigen Urenkel. Aber auch das gehört dazu. Heimweh lässt sich nie ganz überwinden, denn einen Ort der Kindheit gibt es nur einmal. Aber wenn wir lange genug lernen, im Ulpan und im übrigen Alltag, dann werden wir dieses Gefühl bald sprachlich und emotional bannen können.

Keine Kommentare: