Der Mann am Bett nebenan
August 2006
So schnell kann es also gehen: Ein kleiner Magen- und Darmvirus schleicht sich übers Wochenende ein, und schon schläft mein Eineinhalbjähriger morgens ungewöhnlich lange, wird auch gegen 11 Uhr nur zögernd wach, hängt abwesend in seinem Hochstuhl und läßt sich teilnahmslos Joghurt in den Mund schieben. Der Kinderarzt diagnostiziert blitzschnell hohen Flüssigkeitsverlusst und ordnet eine Infusion an. Und so sitzt unsere kleine Familie am ersten Tag der Woche mittags im angenehm kühlen Service-Zentrum der Krankenkasse, während draussen Waschküchenwetter herrscht.
Nachdem vier Erwachsene nötig waren, um Yair die Infusionsnadel in die Hand einzuführen, ist dieser gleich wieder in einen erschöpften Tiefschlaf gefallen. Wir sitzen besorgt an seinem Bett und starren hilflos die Flüssigkeit an, die langsam, über Stunden, in seinen jungen Körper tropft. Irgendwann steht mein Mann auf, um Kaffee und einen dürftigen Mittagssnack aufzutreiben. Weil unsere Mägen knurren, aber auch, um die Ruhelosigkeit und die Selbstvorwürfe zu bekämpfen.
Am Bett neben uns sitzt ein religiöser Mann mit tiefschwarzem Haar und einer leuchtend weiß gehäkelten Kipa auf dem Kopf, dessen wenige Monate alter Sohn ebenfalls am Tropf hängt. Konzentriert über ein Gebetbuch gebeugt, murmelt er unaufhörlich vor sich hin. Sein Oberkörper bewegt sich vor und zurück, und seine Schläfenlocken schwingen dazu rhythmisch mit. Er scheint uns kaum wahrzunehmen, aber als sein Sohn an zu wimmern fängt, springt er sofort auf, bereitet ein Fläschen zu, füttert ihn, und spricht beruhigend auf ihn ein. Wie vorher die Gebete, so dringen nun seine Trostworte an mein Ohr.
Plötzlich starre ich den Kaffee in meiner Hand an, den angebissenen Croissant auf dem Tisch neben mir. Wie profan. Wie ordinär. Da liegt mein kleiner Sohn, und ich stopfe mir den Mund voll. Und dieser Mann kümmert sich so hingebungsvoll, als gäbe es sonst nichts auf der Welt. Als hätte er nur diesen einen Sohn und nicht mindestens noch eine Handvoll Kinder, die zu Hause auf ihn warten. Ich bin gerüht und kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich höre, wie er seinen Sohn überschwänglich für ein unüberhörbares Bäuerchen lobt. Vorsichtig legt er ihn wieder hin, wartet, bis er eingeschlafen ist, und nimmt dann erneut sein Gebetbuch zu Hand.
Vielleicht sollte man die Dinge wirklich mit dieser Gelassenheit hinnehmen. Mit solchem Gottvertrauen. Vielleicht hätte sich diese Woche dann weniger anstrengend gestaltet. Aber an diesem Tag, am Bett meines Sohnes, konnte ich ja nicht ahnen, was uns noch bevorstand. Das Yair am nächsten Tag eine zweite Infusion benötigen würde. Dass sein tückischer Virus nach Übelkeit und Erbrechen noch vier Tage Fieber nach sich ziehen würde. Dass dann mein Mann zu allem Überfluss selber noch bettlägrig werden würde, mit 40 Grad Fieber, Symptom einer akuten Lungenentzündung. Und all das ausgerechnet im ersten Monat in meiner neuen Firma.
Inzwischen haben wir das Ende der Woche erreicht. Mein Sohn ist fieberfrei; mein Mann kann wieder alleine ein Glas Wasser heben. Und ich denke noch manchmal an den Mann am Bett neben uns zurück. Er hat etwas in mir berührt. Als er schliesslich aufstehen und seinen Sohn nach Hause schieben konnte, hat er uns freundlich Gute Besserung gewünscht. Als wären wir gute Bekannte. Als hätte er auch von unserer Geschichte jedes Detail mitbekommen. Ich hoffe sehr, dass es seinem Sohn wieder gut geht.
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