Deutschstunde

Juli 2004
Es ist einer dieser friedlichen Samstage, an denen die flirrende Nachmittagshitze nur vom gleichmäßigen Surren der Klimaanlagen unterbrochen wird. Und vom kreischenden Rasenmäher unseres Nachbarn, der noch nicht begriffen hat, dass Samstagsruhe herrschen sollte. Nicht einmal Kinder jagen auf Fahrrädern durch die Straßen, und der nahe Spielplatz liegt verwaist unter einem ewig blauen Sommerhimmel.
Ich bin erschöpft von den Strapazen der Woche. Im Büro war wieder der Teufel los, zwei Geburtstage und ein Todesfall haben uns in Atem gehalten, und zu allem Überfluß hatte mich mein Mann auch noch gebeten, bei seiner letzten Deutschstunde vor den Sommerferien vorbeizuschauen, damit ich endlich einmal Heidi kennenlerne, seine Lehrerin, deren Herz er spätestens mit seinem Schützenfest-Abenteuer Ende Juni erobert hat.
Heidi ist blond, schlank, Anfang 60 und gebürtig aus Ost-Deutschland. Über 30 Jahre lang hat sie Deutsch unterrichtet; jetzt ist sie wie ich seit über drei Jahren in Israel. Die Neugier hat sie nach der deutschen Wiedervereinigung zu einer Reise nach Israel getrieben. Daß sie hier ihren jetzigen Mann kennenlernen würde, damit hat sie nicht gerechnet. Lachend gesteht sie, dass der heute noch nicht einmal so gut Deutsch spricht wie ihre Studenten im Goethe-Institut. Dann verkündet sie dem Plenum, dass sie am nächsten Tag für sechs Wochen nach Freiburg zu ihrer Tochter fliegt, um endlich ihre fünf Monate alte Enkelin kennernzulernen. Natürlich hofft sie, im Herbst alle wiederzusehen.
Doch das wird wohl nicht der Fall sein. Zwei der jungen Israelis ziehen zum Studium nach Deutschland. Adi will Rußland und China bereisen, Liron fängt im Oktober mit ihrem Biotechnologie-Studium an, NAME mit Jura. NAME geht nach London, um dort seinen MBA zu machen. Die meisten haben Pläne, sind in Aufbruchstimmung. Nur NAME aus Rußland zwingt sich zu einem traurigen Lächeln. Sie wollte nach fünf Jahren endlich ihre Familie wiedersehen, die jetzt in New York lebt. Aber die amerikanischen Behörden verweigern ihr ein Visum aus Angst, die könne dort bleiben.
Durchs offene Fenster unseres Arbeitszimmers weht ganz plötzlich eine erfrischende Brise herein. Bald ist es Zeit für den samstäglichen Dämmerspaziergang, der uns meist zu einer Anhöhe führt, von der aus man einen einmaligen Blick auf die sanften Hügel des östlich gelegenen Samarias hat (heute ob der hohen Luftfeuchtigkeit im Dunst verborgen). Ein einladendes Panorama – aber der Weg dorthin ist weiter als die wenigen Kilometer Luftlinie.
Ich bin noch nie dort gewesen. Auch Bethlehem und Jericho habe ich noch nie gesehen; nicht einmal den Ölberg in Ostjerusalem. Hier ist nicht alles, was nah scheint, erreichbar. Und nicht alles, was erreichbar ist, ist sicher. Viele Menschen betrachten daher auch die Mauer, die entlang der Grenze zur Westbank entsteht, als ein notwendiges Übel, das bereits etliche Anschläge zu verhindern geholfen hat. Einzig die Tatsache, dass diese Mauer streckenweise auf nicht-israelischem Boden verläuft, bleibt umstritten. Doch gerichtliche Entscheidungen in Den Haag tragen wenig dazu bei, einen zum Stillstand gekommenen Dialog wieder in Gang zu bringen. Vielleicht führt ja die Rebellion der Palästinenser gegen Arafat endlich zu einer Wende. Vorerst jedenfalls werde ich mich mit einem Blick auf Samarias Erhebungen begnügen müssen. Aber hoffentlich nicht für immer.Als unser Nachbar seinen Rasenmäher abstellt, atme ich erleichtert auf. Endlich. Doch fünf Minuten später steht er plötzlich mit Putzzeug und Staubsauger neben seinem Auto. Resigniert schreite ich zur Stereoanlage und lege meine neue Pe Werner CD ein. Ein schwesterliches Geburtstagsgeschenk zum 30sten. Wenn schon, dann wenigstens mit Musik.

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