Biblische Zustände

Oktober 2006

Als wir uns auf den Weg nach Jerusalem machen, ist der frühe Morgen, den wir eigentlich ins Auge gefasst hatten, fast vorbei. Kein Wunder: Meine Schwiegermutter multipliziert die Verspätung, mit der wir gewöhnlich kalkulieren, um ein Vielfaches. Doch alles halb so schlimm. Innerhalb einer Stunde passieren wir die Stadtgrenzen, und nach ein paar Umwegen aufgrund falscher Internetplanung nähern wir uns endlich unserem Ziel: dem biblischen Zoo. Im Südwesten Jerusalems gelegen, schmiegt er sich weitläufig an den Hang eines Hügels; und wie sein Name verheisst, präsentiert er vor allem Tiere, die in der Bibel erwähnt werden, samt einer Arche Noah, die als Informationszentrum dient.
Erleichtert, die ‚heilige Stadt’ ohne größere Probleme durchquert zu haben, steuere ich zielsicher auf die letzte Abfahrt zu. Doch da blockiert plötzlich eine Polizeistreife meinen Weg: Der Parkplatz des Zoos sei wegen Überfüllung gesperrt, wir möchten doch bitte die kostenlose Parkmöglichkeit am Stadion nutzen, um mit Shuttlebussen zum Eingang gekarrt zu werden. Genervt mache ich kehrt und suche mühsam den Weg zum Stadion. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn einmal alles nach Plan verlaufen wäre. Irgendein Chaos gibt es hier immer.
Dann dämmert es mir plötzlich: Natürlich herrscht Andrang! Schliesslich stellen die Halbfeiertage am Laubhüttenfest für religiöse Juden eine der zwei Möglichkeiten im Jahr dar, ihre Familien auszuführen. Ergeben mache ich mich auf das Schlimmste gefasst; predige mir Geduld; atme tief durch. Dann steige ich in Kampfstimmung aus dem Auto, mache den Kinderwagen startklar, und dirigiere Schwiegermama und meinen protestierenden Sohn, der nicht sitzen sondern laufen will, Richtung Bushaltestelle.
Dort erlebe ich die erste Überraschung: keinerlei Wartetrauben, kaum Wartezeit. Innerhalb weniger Minuten finden wir uns schon vor den Ticketboxen am Zooeingang wieder. Überraschung Nummer 2: keinerlei Wartetrauben, kaum Wartezeit. Allerdings ziehe ich verstohlen an meinem Trägertop, weil mir in Anwesenheit so vieler Orthodoxer plötzlich unbehaglich ist mit meinen freien Schultern.
Hinter den Toren dann Überraschung Nummer 3: keine Müllhalden, kein Durcheinander. Die Horden tief religliöser Grossfamilien, die durch die Anlage walzen, hinterlassen auf unerklärliche Weise kaum eine Spur. Fasziniert starre ich ihnen hinterher. Einige von ihnen wirken, als seien sie nicht von dieser Welt. Mit Hüten und Schäfenlocken, Kopftüchern oder Perücken, in schwarzen Anzügen oder langen Röcken, mit Strumphosen und festen Schuhen stapfen sie von Käfig zu Käfig, die meisten von ihnen so blass, als hätte ihre Haut niemals Sonne gesehen. Scharen von Kindern laufen umher, als seien sie es nicht gewohnt, ihre Glieder zu bewegen, auf ihren Gesichtern ein seliges Leuchten beim Anblick der biblischen Tiere. Fast finde ich ihre Anwesenheit spannender als die der eigentlichen Zoobewohner, doch Yair und seine Grossmutter belehren mich schnell eines besseren.
Noch ehe ich mich losreissen kann, sind sie bereits auf und davon. Mein Sohn ist fasziniert von all den Tieren, die er aus seinen Bilderbüchern kennt; meine Schwiegermutter weidet sich an der Faszination meines Sohnes; und ich freue mich darüber, meine Seele ein bisschen baumeln lassen zu können.
Inzwischen hat sich der Herbst auch bei uns auf leisen Sohlen herangeschlichen. Über Nacht hat er den ersten kräftigen Regen gebracht, wenn man von den paar Tropfen absieht, die schon vor ein paar Wochen gefallen sind. Hastig haben wir unsere wärmeren Klamotten hervorgekramt und beschämt festgestellt, dass Yair weder passende Strümpfe noch Halbschuhe hat. Aber da Regen nicht gleich Kälte bedeutet, ist das keine Katastrophe. Das Thermometer klettert am Nachmittag trotzdem über die 25-Grad-Marke, und ich fange in meinen langen Ärmeln an zu schwitzen.
Die hohen Feiertage liegen hinter uns--ein weiteres Indiz dafür, dass der Sommer sich verabschiedet hat. Mit runden Bäuchen und noch schläfrig vom vielen Nichtstun schieben wir uns wieder tagtäglich hinter den Schreibtisch. Und während die meisten in Erinnerungen an üppige Mahlzeiten schwelgen, plappert Yair aufgeregt von den Tieren, die ihm letzte Woche einen unvergesslichen Tag beschert haben.

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