Superkräfte

September 2006

Langsam entwickle ich Routine. Und dank der israelischen Mentalität—soll heissen, Flexibilität und Formlosigkeit—ist der Eiertanz auch gar nicht so schwer. Mit entsprechend viel Energie und ein bisschen Organisationstalent lässt sich alles bewerkstelligen. Es macht doch nichts, dass mein Mann erst kürzlich zwei Wochen lang seinen Job vernachlässigt hat und deshalb nicht einspringen kann. Auch dass wir im Büro kurz vor der Veröffentlichung unserer neuen Software-Version stehen, spielt eigentlich keine Rolle. Ganz zu schweigen von der Firmenfeier und der Hochzeit, die diese Woche noch anstehen, oder den Feiertagen, die am Wochenende beginnen und unseren Countdown zum Stichtag noch verkürzen. Mein kleiner Sohn ist eben schon wieder krank, und da muss man sich einfach ein bisschen behelfen.
Ich sehe das eigentlich ganz locker. Als wir am Samstag abend Fieber feststellten, gingen zwar erstmal alle Alarmglocken an, aber inzwischen sehe ich keinen Anlass zur Panik mehr. Nur weil Yair krank ist, muss ich ja nicht zwangsläufig frei nehmen. Da steht man eben morgens mal ein bisschen früher auf als sonst. Sagen wir, so gegen 5:30. Das ist doch nun wirklich nicht so tragisch. Um 6:30 sitze ich schon im Büro und lege los. Gegen 9:00 fahre ich wieder nach Hause, um meinen Mann abzulösen. Der wälzt sich dann mit den allmorgendlichen Staus ins Büro. Nur 40 Minuten ins 15 Kilometer entfernte Ra’anana—das ist für hiesige Verhältnisse wirklich noch akzeptabel (habe ich erwähnt, wie froh ich bin, nicht mehr die 40 Kilometer zur Arbeit fahren zu müssen!?).
Ich übernehme also zu Hause die Führung. Alles ganz normal. Als mein Sohn nach dem Mittagessen völlig erschöpft in einen dreistündigen Mittagsschlaf entschwindet, kann ich mich mühelos wieder der Arbeit zuwenden. Ein paar Telefonate erledigen. Ein paar Kapitel korrekturlesen. Zu letzterem komme ich im Büro ohnehin nie, weil diese Aufgabe explizit nur dann zu erledigen ist, wenn ich „Leerlauf“ habe; und das kommt nicht vor. Also ist es vielleicht ganz gut, dass ich mir den Tag so einteilen kann. So kann ich endlich Dinge abarbeiten, die schon zu lange liegengeblieben sind.
Als Papa Shai um 18:00 nach Hause kommt, weil er sich dank unserer Ausnahmesituation extra früh von allen Terminen freigemacht hat, springe ich direkt wieder ins Auto, um im Büro die wirklich wichtigen Sachen in Angriff zu nehmen. Ich habe noch keinen Fuss durch die Tür gesetzt, als mich Arie aus der Entwicklung gleich mit Beschlag belegt. Erst zwei Stunden später verläßt er mein Büro, nachdem wir eingehend diverse Handbücher auf 2-Phasen-Commit und eingehende/ausgehende Transaktionen geprüft und korrigiert haben. Mir hängt inzwischen der Magen auf den Knien, aber ich will keine Schwäche zeigen und steuere beschwingt in Richtung Küche, um mir eine Tasse Tee zu machen und mich dann auf meine mitgebrachten Brote zu stürzen—echtes deutsches Mehrkornbrot übrigns, von einer bekannten Bäckerei aus Gütersloh, das es hier zu meiner Freude in fast jedem Supermarkt gibt.
Dann geniesse ich die Abendruhe, die sich fast unmerklich über unsere Etage gesenkt hat, und arbeite konzentriert vor mich hin. Als ich um 22:30 den Heimweg antrete--morgen ist schliesslich auch noch ein Tag--, mache ich noch schnell eine Runde an allen Zimmern vorbei, damit ich nicht versehentlich alle Lichter aus- und die Alarmanlage einschalte. Und tatsächlich sitzt hinten links noch Gil vor seinem flimmernden Bildschirm und lächelt mich tapfer an, als ich eine Gute Nacht wünsche. So fahre ich denn durch die warme Nacht nach Hause, lausche noch kurz dem Fieberbericht und schlüpfe ins Bett. Alles halb so schlimm. Jetzt heisst es nur noch durchhalten bis zum Wochenende, um die Ankunft des jüdischen Neujahrs zu feiern. In 5767 wird dann hoffentlich alles ein bisschen leichter.

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