Jom Kippur

September 2004
Heute ist der einzige Tag des Jahres, an dem wir nicht frühstücken und mittagessen; an dem die Küche kalt und der Kühlschrank geschlossen bleibt. Der einzige Tag, an dem israelische Fernseh- und Radiosender nicht übertragen und auf Israels Straßen kein einziges Auto unterwegs ist, so dass sie von Kindern mit ihren Fahrrädern, Rollerblades und Rollern beherrscht werden. Der einzige Tag auch, an dem weit mehr Menschen als sonst die Synagoge besuchen, viele von ihnen in Weiß gekleidet, die Farbe der Unschuld und der Versöhnung. Denn heute ist Jom Kippur, der Versöhnungstag, der höchste aller jüdischen Feiertage, der auch Shabbat der Shabbate genannt wird.
Jom Kippur bildet den Abschluß einer 40tägigen Zeit der Umkehr und Besinnung – auf sich selbst und auf seine Mitmenschen. Diese Zeit, und besonders dieser Tag, ist eine Zeit des Herzens, in der Streitigkeiten behoben und Mißstände ausgeglichen werden sollen; eine kritische Abrechnung mit sich selbst, während der man um Verzeihung bittet, Frieden herzustellen versucht und gute Vorsätze fasst. Und am Ende dieses Tages, kurz vor Sonnenuntergang, kündigt der Klang des Schofars, eines Widderhorns, den Zeitpunkt an, an dem Gott sein Urteil fällt über das Los eines jeden von uns.
Aber Jom Kippur ist auch der Tag, an dem vor nunmehr 31 Jahren ein Krieg begann, der als Jom-Kippur-Krieg in die Geschichte eingegangen ist. Der Tag, an dem die Syrer und Ägypter Israel überraschend angriffen, während die Menschen beteten oder in völliger Ruhe – ohne Radio, ohne Fernsehen – fastend in ihren Häusern saßen. Von diesem Krieg wird noch heute gesprochen. Seine Ungeheuerlichkeit löst noch immer Fassungslosigkeit, Unglauben und Angst in den Herzen der Menschen aus. Auch heute befindet sich das Land in höchster Alarmbereitschaft. Entlang der besetzten Gebiete, auf Marktplätzen, an der Klagemauer in Jerusalem und sogar vor jeder Synagoge hält Sicherheitspersonal Wache – ähnlich wie in Berlin oder Frankfurt, aber leider im eigenen Land.
Noch immer ist es hochsommerlich warm, aber an manchen Tagen, so auch heute, trägt der Wind schon den Duft des Herbstes mit sich. Wir haben bereits in dieser Woche die Uhr umgestellt – früher als der Rest der Welt und nicht sehr willkommen. Denn jetzt versinkt die Sonne schon um 17.33 Uhr im Meer, und um 18 Uhr herrscht völlige Dunkelheit. Für die Fastenden jedoch ist diese Umstellung eine (scheinbare) Erleichterung, da Jom Kippur auf diese Weise schon eine Stunde früher endet und ein üppiges Essen auf den Tisch gebracht werden kann.
Ich liebe diese Zeit der Feiertage. Erst am letzten Wochenende haben wir Rosh HaShana, das jüdische Neujahrsfest, gefeiert. Und in wenigen Tagen steht Sukkot, das Laubhüttenfest, vor der Tür. Wer es genau nimmt, beginnt bereits heute nach Sonnenuntergang damit, eine Sukka, eine Laubhütte, im Garten oder auf dem Balkon zu bauen – mit einem Dach aus Palmzweigen. Bei all dem Streß im Büro und den diesmal gestrichenen Betriebsferien sind diese Tage somit ausgleichende Oasen der Ruhe.
In diesen Wochen sind die Hotels überfüllt, die Preise horrende und fast alle Flüge ausgebucht. Gerade deshalb hat der Streik, zu dem die Gewerkschaft letzte Woche aufrief, Chaos und Unruhe ausgelöst. Eine Arbeitskollegin auf der Rückreise aus New York strandete für 24 Stunden in Budapest, und ein englischer Geschäftsmann, der lediglich für eine morgendliche Besprechung angereist war, fand sich schließlich in einem Taxi nach Amman (Jordanien) wieder, um von dort aus zurückzufliegen.
Doch heute ist von dieser Hektik nichts mehr zu spüren. Noch sind es zwei Stunden, bis die Umgebung wieder zum Leben erwachen wird und die ersten Küchendüfte aus den Häusern strömen werden. Außer vereinzelten Kinderstimmen herrscht völlige Ruhe. Und ich bin eine der wenigen, die jetzt diskret für einen Snack und ein Glas Wasser in die Küche schleichen wird.

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