Das Ende einer Ära

Januar 2006
Ich werde unsanft aus dem Schlaf gerissen. „[Ariel] Sharon ist schon wieder im Krankenhaus. Er wird gerade operiert. Jetzt stirbt er bestimmt.“ Mein Mann ist völlig bestürzt, und ich bin, obwohl schlaftrunken, gleichermassen betroffen. „Aber er ist der einzige, der wirklich etwas bewirken kann!“ ist der erste Gedanke, der mir kommt. „Er darf doch jetzt nicht einfach gehen.“ Es ist weit nach Mitternacht.
Am nächsten Morgen stürze ich als erstes zum PC, um im Internet Nachrichten zu lesen. Keine Neuigkeiten. Die Ärzte operieren noch. Es ist kurz nach 6. Auf dem Weg zur Arbeit lausche ich angestrengt den 7 Uhr Nachrichten. Die OP ist beendet, jetzt heißt es Abwarten. Der Gesundheitszustand des Premierministers wird als ernst, aber stabil bezeichnet.
Im Büro gibt es kaum ein anderes Thema. Alle sind gleichermaßen besorgt. Dennoch lasse ich hier Vorsicht walten, denn zu viel Mitgefühl verrät sehr schnell politische Einstellungen, und ich bin gerade wirklich nicht in der Laune, heiße Diskussionen zu führen. So schleppt sich eine Nation durch den ersten Tag nach Ariel Sharons erneuter Einlieferung ins Krankenhaus: fassungslos, deprimiert, aber mancherorts vielleicht auch mit einem leisen Anflug von verhaltener Hoffnung und Freude.
Fünf Jahre zuvor: In den ersten Herbstagen des Jahres 2000 fahre ich mit meinem jetzigen Mann von Galilea zurück in die Küstenebene. Bereits seit zwei Tagen herrschen Unruhen im Land, scheinbar ausgelöst durch eine einzige Person, noch dazu jemand, dessen Namen ich noch nie zuvor gehört habe: Ariel Sharon.
Protestierend blockieren die israelischen Araber Kreuzungen mit brennenden Reifen, werfen Steine. Statt unser Wochenende im grünen Norden zu genießen, haben wir die meiste Zeit vor dem Fernseher verbracht, um die Aufstände zu verfolgen. Jetzt müssen wir unsere Route ändern, um belagerte Kreuzungen zu vermeiden.
Wenige Tage danach sitze ich im Flugzeug zurück nach Deutschland. Dort kämpfe ich mit der Vollendung meiner Magisterarbeit, doch im Hintergrund flimmern stundenlang Bilder von CNN oder N-TV über den Fernsehbildschirm. Ständig neue Hiobsbotschaften. Die Unruhen wollen kein Ende nehmen. Tag und Nacht verfolge ich die Nachrichten, sorge mich um Shai und seine Familie, sein Land. Aus der Ferne erscheint mir alles noch viel schlimmer. Die räumliche Distanz wirkt wie ein Exponent.
Im November 2000 gibt es die ersten vorsichtigen „Hochrechnungen“—diese Intifada werde vermutlich noch mindestens ein Jahr dauern. Ich bin völlig ausser mir, und das nicht nur, weil ich plane, im April des kommenden Jahres meine Koffer zu packen. All das wegen des provokativen Betretens des Tempelberges durch Ariel Sharon? Das finde ich entschieden übertrieben.
Heute, im Januar 2006, zittert eine ganze Nation um den einstigen „Bulldozer“. Schon schien ein wenig Ruhe zum Greifen nahe, wie ein dünner Silberstreif am Horizont. Zehn Jahre nach der Ermordung Yitzchak Rabins hatte der Friedensprozeß endlich wieder an Momentum gewonnen. Jetzt steht alles erneut in den Sternen. Hoffnungen scheinen zerschlagen. Wer außer Ariel Sharon hätte die Kraft, die Entschlossenheit, und die Überzeugung, in dieser Region wirklich etwas zu bewirken?
Inzwischen widmen sich die Medien wieder anderen Schlagzeilen. Der politische Aparat mahlt weiter, Ehud Olmer plant seine erste USA Reise, und die Wahlen im März werden wohl stattfinden—doch eine Ära neigt sich unweigerlich dem Ende zu. Wieder einmal können wir nur abwarten.

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