Ade Safta Hana

April 2004
Jetzt kreisen wieder die Störche. Wenn sie zu Duzenden hoch oben ihre zylinderförmigen Bahnen ziehen, dann ist der Frühling da und Pessach ist nicht weit. Im letzten Jahr waren diese Tage von den Vorbereitungen auf unsere Hochzeit geprägt und erfüllt von der Vorfreude auf meine Eltern, die endlich, endlich meine neue Heimat kennenlernen würden. Dieses Jahr liegt leise Trauer in der Luft, und der betörende Duft blühernder Zitrusbäume und reifer Erdbeerfelder mischt sich mit dem schmerzlichen Bewusstsein, dass vor einigen Tagen meine Schwiegeroma gestorben ist: 90zigjährig, vital und bis zuletzt dazu aufgelegt, sich bei mir über ihre Wehwehchen und die Last des Älterwerdens auszulassen—und das in einem Deutsch, dass sie aus Schulzeiten herübergerettet hat.
Die sieben Trauertage ("Schiwa" genannt) liegen hinter uns: eine Woche, in der die Familie jeden Tag zusammenkam um Trost zu spenden, Nähe anzubieten und Erinnerungen auszutauschen. Historische Dokumente und vergilbte Fotoalben wurden hervorgeholt und wiederentdeckt: Safta (Oma) Hana als junges Mädchen Anfang der 1930er Jahre in Sophia, ihrer Heimatstadt. Safta Hana mit ihren (nicht jüdischen) besten Freundinnen. Safta Hana im Kreise ihrer Familie. An ihrem Hochzeitstag. Beim Skilaufen 1936. 1938 dann erstmals mit Kinderwagen. Schließlich 1944 in Israel, nach einer beschwerlichen Reise über die Türkei, den Libanon und Syrien. In ihren ersten Jahren hier hat sie deutschen Einwanderern Klavierunterricht erteilt. Sprachlich entwurzelt, war sie froh, auf ihre Deutschkenntnisse zurückgreifen zu können.
So entsteht vor meinen Augen und in meinem Geiste ihr Leben, und zum ersten Mal denke ich, wie wenig man einen Menschen wirklich kennen lernt, den man erst im Alter trifft. Als wir Blumen auf ihr Grab legen, überkommt mich eine unendliche Traurigkeit. Dass das alles ist, was uns bleibt. Steine auf einem Grab. Eine Inschrift. Ein Bild. Allenfalls eine Spur in den Herzen der nächsten Generation. Da spitze ich plötzlich begierig die Ohren, um wie ein Schwamm alle Geschichten über diese alte Dame aufzusaugen, deren letzten runden Geburtstag wir noch im Juli gefeiert haben und die mich, trotz Krieg und Arbeitslager, angenommen und gemocht hat. Und ich schaue mir wieder und wieder die Fotos an, um die Person zu fühlen, die von uns gegangen ist.
So ist Pessach, das zeitliche Pendant zum christlichen Osterfest, an dem die Hagadda (Geschichte vom Auszug aus Ägypten) gelesen und nur Ungesäuertes gegessen wird, dieses Jahr weniger fröhlich ausgefallen als sonst. Aber ich habe trotzdem mit Sybille (meiner Schweizer Freundin) Eier gefärbt—einfach so, um an unserer eigenen Geschichte festzuhalten.
Interessanterweise ist das Ei im Judentum ein Symbol der Trauer (aber auch der Hoffnung). Bei der ersten Mahlzeit nach einer Beerdigung isst der Trauernde ein Ei—neben anderen runden Speisen, die symbolisieren sollen, dass das Leben einem ewigen Kreislauf gleicht. Beim Pessachmahl versinnbildlicht das Ei eine Eigenschaft des jüdischen Volkes: Je länger man es kocht, desto härter wird es...Jetzt heißt es warten auf Schawuot, das jüdische Wochenfest, das zeitgleich mit Pfingsten gefeiert wird. 50 Tage nach Pessach.

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