Regen!

November 2003
Über den Himmel jagen in einem sich ständig verändernden Mosaik die Wolken, turmhoch und regenschwer. Blätter und Blüten glänzen tropfnass im Licht der hier und dort durchbrechenden Sonne. Ihr saftiges Grün lässt nichts mehr ahnen von der staubigen Blässe des Sommers, der langsam Abschied nimmt. Ich kann förmlich sehen, wie sie gierig alle Glieder emporrecken, dem ungewohnten Nass entgegen. In der Ferne zittern die silbrigen Blätter meterhoher Eukalyptusbäume wie freudig erregt. Und die klar-kühle Morgenluft verströmt den Duft von Orangenhainen, deren reife Früchte sich leuchtend von einem Hintergrund dunklen Laubes abheben – Boten des Winters, der jetzt auch in Israel Einzug hält.
Ich sitze im Auto und lasse mich langsam vorwärts rollen, seltsam entspannt angesichts der Blechlawine, die sich vor meinen Augen bis zum Horizont erstreckt. Dies ist kein normaler Wochenanfangsstau. Dies ist kein gewöhnlicher Sonntagmorgen. Heute ist der Tag des „Joreh“, des Schießers, des ersten Regens nach sechsmonatiger Hitze und Trockenheit. Wie eine Schleuse hat sich nachts der Himmel geöffnet und in Sekunden alles durchtränkt, hat minutenschnell die Erde überflutet, so dass ich gleich vom ungewohnten Geräusch der rasselnden Tropfen aufgewacht bin und verzückt eine Zeitlang gelauscht habe. Regen!
Nie habe ich gedacht, dass ich einmal solch ausgelassene Euphorie empfinden könnte beim Klang dieser Rhythmen, beim Anblick solch tiefschwarzer Wolken. Der israelische Regen hat einen essentiell anderen Charakter – für mich jedenfalls. Israelis selber schwärmen oft vom gleichmäßigen Landregen europäischer Gefilde, den man gemütlich unterm Regenschirm genießen kann und der so nichts von der Wucht und Heftigkeit der hiesigen Regenfälle hat. Dabei ist es gerade letzteres, was mich fasziniert. Hier gibt es keinen endlosen Niesel, der tage- oder schlimmstenfalls wochenlang das Land der Sonne beraubt und die Landschaft in monotones Grau in Grau hüllt. Israelischer Regen verspricht Abwechslung, Abkühlung, Erholung, ist Erlebnis und Abenteuer. Regen ist der Segen, auf den das Land und seine Menschen jedes Jahr erneut warten. Und jeder noch so winzige Tropfen nach langer Dürre schürt die Hoffnung auf einen – dringend benötigten – regenreichen Winter.
An diesem Morgen bringt der Regen den Verkehr fast völlig zum Erliegen. Das ohnehin nur spärlich ausgebaute Kanalsystem ist vielerorts bereits überlastet. Wasser staut sich überall, teilweise fällt der Strom aus, und die digitale Stauanzeigetafel über der Autobahn versagt den Betrieb. Ich muss lachen als ich im Radio zum ersten Mal die winterliche Reklame zum andersartigen Verhalten im Straßenverkehr höre und bin sicher, auch am schwarzen Brett meiner Firma ab heute Instruktionen zum angemessenen Fahren bei Regen vorzufinden, mit Hinweisen darauf, dass regennasse Straßen längere Bremswege verursachen und Abstandhalten zwingend notwendig ist. Bereits seit 1. November fahren wir auch tagsüber mit Licht – gesetzlich vorgeschrieben bis zum 31. März.
Aber heute kann mich das Chaos auf Israels Straßen nicht in Aufregung versetzen. Leise summe ich den Refrain des einzigen mir bekannten hebräischen Regenliedes vor mich hin, ein Ohrwurm, der mir danach den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gehen wird, und freue mich schon auf einen gemütlichen Abend bei Kerzenschein zu Hause, an dem ich endlich meine Spekulatiusvorräte anbrechen werde: „Shneinu iachad tachat mitria achat, shneinu medalgim al col ha shluliot. Ir bageshem sacha lanu kacha – hachaim iafim, kedei lachem lechiot!“ („Wir zwei zusammen unter einem Regenschirm springen hinweg über alle Pfützen. Eine Stadt im Regen flüstert uns zu: das Leben ist schön, des Lebens wert!“) Und der Winter fängt gerade erst an!

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