Jahreswechsel

Januar 2004
Wenn am Freitagabend langsam Ruhe einkehrt und die alltägliche Hektik sich in friedvolle Gelassenheit wandelt, weiß ich, dass der Shabbat Einzug gehalten hat. Aus dem Wohnzimmer klingen die Stimmen eines britischen Films zu mir herauf, während ich, in eine Decke gehüllt, im Arbeitszimmer sitze und an meinem nächsten Beitrag arbeite. Draußen sind es knapp zehn Grad, und die Kälte kriecht durch alle Ritzen. Unten heizt die Klimaanlage, doch hier oben vermisse ich frierend die behagliche Gemütlichkeit einer Heizung. Am Hermon, dem höchsten Berg in Israels Norden, liegt Schnee, und die Skilifte sind in Betrieb, doch hier in der Küstenebene fällt nichts als Regen.
Das neue Jahr hat still Einzug gehalten, ohne Feuerwerk und Feiertag. Zwar haben wir Silvester in einer ausgelassenen georgischen Bar in Tel Aviv verbracht, in der nach Mitternacht die Tische zur Tanzfläche wurden, aber am Neujahrstag klingelte frühmorgens der Wecker, um uns zur Arbeit zu mahnen. Das jüdische Jahr 5764 hat bereits am ersten Tishrei begonnen, der dieses Mal auf das letzte Septemberwochende fiel.
Statistisch gesehen war 2003 ruhiger als das Vorjahr, mit 50% weniger Terroranschlägen, bei denen 30% weniger Menschen ums Leben kamen. Und doch ist es erst wenige Wochen her, dass ich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause plötzlich Polizeitauto um Polizeiauto ausweichen musste, die mit Blaulicht und überhöhter Geschwindigkeit an mir vorbeirasten. Aus allen Richtungen klangen Sirenen, und kurz darauf kamen die ersten Rettungswagen in Sicht. Mit klopfendem Herzen fuhr ich schließlich auf die innere Spur, um dem Slalom ein Ende zu machen, und wechselte den Radiosender: Bombenanschlag an einer Bushaltestelle unterhalb der Ausfahrt, der ich mich gerade näherte, vor wenigen Minuten. Mehrere Menschen tot, etliche verletzt. Was mich wieder einmal daran erinnerte, warum ich in diesem Land nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahre und die meisten Cafés, Supermärkte und alle öffentlichen Einrichtungen Sicherheitsbeamte beschäftigen, die Taschen und Jacken auf Waffen und verdächtige Gegenstände untersuchen. Das ist ein trauriger Teil der israelischen Normalität, so leid die Menschen diesen Konflikt auch sind.
Vor einigen Monaten musste ein Freund von uns seinen jährlichen Reservedienst leisten—fünf Wochen in Netzarim, einer Siedlung im Gazastreifen, in der jeweils ein Soldat einen Siedler bewachen muss. Verheiratet mit zwei kleinen Kindern, durchwachte unser Freund Nächte und wußte mehr als einmal nicht, ob er seine Familie wiedersehen würde. Fünf Wochen Ausnahmezustand, die tiefe Spuren hinterlassen und die Wut auf die fanatischen Siedler schüren, deren politische Gesinnung diesen Wahnsinn zulässt und die mit völliger Selbstverständlichkeit das Leben anderer für sich aufs Spiel setzen. Ein israelischer Fernsehsender lud unseren Freund kurz darauf zu einer Talkshow ein, um mit ihm über seine Erfahrungen zu sprechen. Nur wenig später verbot ein Reserveoffizier seiner gerade zum Militär eingezogenen Tochter, einem Befehl zum Dienst in Netzarim Folge zu leisten. Lieber sähe er sie für kurze Zeit im Gefängnis, erklärte er, wohlwissend, dass dies keine angenehme Erfahrung sei. Dann käme sie vielleicht traurig und niedergeschlagen nach Hause, aber wenigstens lebend.
Heute habe ich auf den Wiesen die ersten gelben Blüten entdeckt, die bis in den späten März hinein die Landschaft in einen leuchtenden Teppich verwandeln. Beharrlich halten diese Blumen an ihrem Zyklus fest, unbeirrt von politischen Tiefschlägen und wirtschaftlichen Talfahrten. Als kleine Hoffnungsträger für ein neues Jahr strecken sie, noch zaghaft, ihre Köpfchen aus dem Boden. Ähnlich zuversichtlich wie dieses Lebenszeichen hat mich das „Frühstück“ mit unseren Nachbarn gestimmt—in einem Café, das so geschäftig summte wie ein Bienenstock und in dem wir am Vorabend mit etwas Glück gerade noch Plätze für die Mittagsstunden reservieren konnten. Am Nachmittag sichteten wir dann durch Zufall ein buntes Treffen ungewöhnlicher Art: in einer Ecke des übergroßen Ikea-Parkplatzes hatte sich der Käfer-Club versammelt. Dort standen, in Reih und Glied und umrundet von stolzen Besitzern, mindestens fünfzig altersschwache, aber gut gepflegte VW-Käfer, in allen Farben des Regenbogens—und das in einem Land, in dem es einmal verpönt war, deutsche Güter zu besitzen. Inzwischen lernen allein am Goethe-Institut in Tel Aviv 600 Israelis Deutsch. Darunter auch mein Mann, der ganz erstaunliche Fortschritte macht und bereits überschwänglich ein „Frohes neues Jahr“ wünschen kann. Hier scheint alles möglich.

Keine Kommentare: