Ein ganz normaler Sommer?

September 2005
Ganz langsam neigt sich der Sommer, oder besser gesagt: die Sommerzeit, dem Ende zu. Zwar wird es noch bis spät in den November hinein angenehm warm bleiben, aber Ende September, vor Beginn der hohen Feiertage, stellen wir bereits auf Winterzeit um. Die Kinder haben gerade ihre letzte Ferienwoche genossen; seit ersten September drücken sie wieder die Schulbank. Und die Erwachsenen bereiten sich gedanklich auf die wiedereinsetzenden allmorgendlichen Staus vor. Denen blicke ich allerdings gelassen entgegen, husche ich doch schon vor sieben Uhr aus dem Haus, wenn die Welt noch in Ordnung ist.
Eigentlich ist es ein ganz normaler Sommer. 30º Grad Celsius. 80% Luftfeuchtigkeit. Surrende Klimaanlagen. Überfüllte Strände. Bevölkerte Spielplätze. Kreischende Zikaden. Eis. Wassermelonen. Passionsfrüchte. Mangos.
Ein Sommer so ruhig, wie er schon lange nicht mehr war. Seit fünf Jahren wagen wir uns deshalb zum ersten Mal wieder auf die Internationale Kunst- und Gewerbemesse, die jeden August rund um den Sultanspool vor den Toren der Jerusalemer Altstadt stattfindet. Dort herrscht buntes Treiben—kunstgewerbliches, kulinarisches, musikalisches. Ein bisschen mühselig zwar, den Kinderwagen durch das historische Gelände zu schieben, doch wir schlagen uns wacker und genießen es sehr.
Aber dies ist auch ein Sommer, der Geschichte schreibt. Ein orange-blauer Sommer, der die Gemüter gegeneinander aufgebracht hat. Wochenlang haben engagierte Siedler und ihre Anhänger neben überzeugten Linken an Kreuzungen gestanden und orange bzw. blaue Bänder verteilt. Kaum ein Auto, das nicht die ein oder die andere Farbe ziert. Wer keine Mißverständnisse aufkommen lassen will, hat ein Band an beide Außenspiegel und an die Antenne geknotet. Israel ist gespalten, und die Welt schaut zu.
Aber nichts ist rein orange oder blau, schwarz oder weiß. Ich befürworte die Räumung Gazas. Habe mich wochenlang über alle orange Geflaggten aufgeregt. Über ihre ungerechtfertigten Ansprüche und Forderungen. Über ihre Uneinsichtigkeit und Sturheit. Über ihre Einstellungen und Ansichten. Aber als ich an den Tagen der Räumungsaktion weinende Kinder sehe, schluchzende Männer, verzweifelte Frauen, Familien, die nach Generationen ein Heim zurücklassen müssen, das sie als einziges zu Hause kennen, und die nicht wissen wohin, da wird auch mir weh ums Herz und ich denke plötzlich: wie leid sie mir tun.
Inzwischen ist Gaza verwaist, sind die Häuser zerstört. Viele der heimlosen Evakuierten leben vorübergehend in Hotels, was diesen eine schon lange nicht mehr erreichte Belegungsquote beschert. Die Wogen haben sich, rein äußerlich zumindest, geglättet. Doch die innere Zerissenheit läßt sich nicht einfach flicken. Dieser Sommer 2005 wird ein historischer Sommer bleiben; weiterreichende Konsequenzen werden sich erst noch zeigen. Beim Schulanfang waren jedenfalls viele neue Gesicher dabei, und sicher nicht nur glückliche. Und wer weiß, vielleicht werden die Staus in diesem neuen Schuljahr ja noch ein Stückchen länger sein.

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