Ungesäuertes

April 2006
„Chag sameach!“ klingt es von überall her. „Frohe Feiertage!“ Morgen ist Pessachabend, und im Büro sind alle in Aufbruchstimmung. Ich sitze mit einem steifen Nacken vor meinem Computer und zähle die Stunden bis Feierabend, damit ich endlich nach Hause düsen und die letzten Vorbereitungen treffen kann. Nicht, dass ich viel zu tun hätte. Pessach ist einer dieser Feiertage, an denen wir uns bislang noch bei grossen Familienessen durchge(fr)essen haben, ohne selber in der Küche stehen zu müssen. Das ist angenehm. Aber trotzdem muss ich unser Haus von allem Gesäuertem befreien (Chametz genannt) oder es zumindest an einen geschlossenen Ort verbannen – denn schliesslich ist Pessach das Fest der ungesäuerten Brote, und damit nehmen es selbst nicht-religiöse Familien genau.
Ich habe mich schon oft gefragt, ob der kulturübergreifende Frühjahrsputz nicht eigentlich von diesem jüdischen Brauch herrührt. Denn welch objektiven Grund gibt es sonst, ausgerechnet im Frühling wie verrückt das ganze Haus zu reinigen? Dass unsere Putzhilfe genau am Donnerstag vor Pessach anrief, um ihren Besuch abzusagen, hätte mich fast in eine Krise gestürzt. Nach einigem Hin und Her haben wir glücklicherweise doch noch einen freien Tag gefunden. Das war allerdings der Shabbat, an dem wir nachmittags Gäste erwarteten und ich den ganzen Morgen die Küche blockierte, so dass Inna zwar überall saubermachen, aber den eigentlich wichtigen Bezirk gar nicht erst angehen konnte. So bleibt es also mir überlassen, die Schränke auszuwischen, den Kühlschrank zu reinigen, auf grosse Krümeljagd zu gehen und alle Back- und Teigwaren, die sich noch im Haus befinden, in einer Schublade zu sammeln und zu verschliessen.
Verzicht auf diese Produkte an Pessach ist eines der Gebote, das längst nicht nur religiöse Juden befolgen. Ich selber werde schweren Herzens meinen allmorgendlichen Müsligenuss für eine Woche einstellen; aber dafür freue ich mich auf Mazot mit Charoset—einem gelbbraunen, köstlichen Aufstrich aus Honig, Wein, Nüssen, Datteln, Rosinen und Äpfeln (es gibt etliche Variationen, aber Safta Shulas Rezept ist bei weitem das beste)—, Hühnersuppe mit Maze-Knödeln, und Pessach-Kekse aus Matze-Mehl, die immer etwas ganz besonderes sind. Die klebrige Beschaffenheit des Charoset soll übrigens an den Lehm für die Ziegel erinnern, den die Israeliten für den Bau der ägyptischen Städte brennen mussten, und der süsse Geschmack auf den Genuss der herrannahnden Freiheit hindeuten. Matza ist das knusprige, flache, ungesäuerte Brot aus Mehl und Wasser, dass die Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten assen, weil keine Zeit für den Säuerungsprozess blieb.
Es ist eine Erfahrung für sich, an den Tagen zwischen den Pessach-Feiertagen einen gängigen Supermarkt aufzusuchen. Weit und breit findet sich kein Krumen Sauerteig. Alle Regale mit Teigwaren—Brot, Kuchen, Kekse, Nudeln—und Getreideprodukten wie Müsli oder Kornflakes sind leergeräumt oder verhängt; einige Gänge sind sogar gänzlich blockiert. Und auf allen angebotenen Produkten steht „Kosher für Pessach.“ Bäckereien und Konditoreien sind geschlossen, und viele Cafés und Restaurants ebenfalls.
Ähnlich wie mit dem Frühjahrsputz verhält es sich übrigens auch mit Ostereiern und Afikoman. Beide werden versteckt und anschliessend von Kindern gesucht. Dass die Osterei-Tradition auf einen heidnischen Brauch zurückgeht, ist mir bekannt. Auch kann ich keine inhaltliche Verbindung zum Afikoman, einem Stück Matza, das vor dem Seder-Mahl versteckt wird und auf dessen Finden ein Preis ausgesetzt ist, herstellen. Dennoch fallen mir diese Parallelen auf, und sie verwundern mich. Am Ende des Tages finden sich ähnliche Bräuche und Glaubenssätze in fast allen Kulturen wieder. Und Chanukka oder Weinachten, Purim oder Karneval, Pessach oder Ostern sind da nur einige Beispiele. In diesem Sinne wünsche ich allen Frohe Ostern!

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